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Lyrikschule - Folge 55 - Wie wenig nütze ich bin (Hilde Domin)

Folge 55 - Wie wenig nütze ich bin (Hilde Domin)

07/01/22 • 17 min

Lyrikschule

Manchmal überkommt uns das Gefühl, dass wir und unser Handeln folgenlos, unwichtig und irrelevant sind. Schon im Sisyphus-Mythos kommt diese Idee zum Tragen. Hilde Domin, die Dichterin des Dennoch, widmet sich im heutigen Text genau dieser Erfahrung und setzt ihr eine kleine trotzige Hoffnung entgegen.

Wie wenig nütze ich bin

Wie wenig nütze ich bin,
ich hebe den Finger und hinterlasse
nicht den kleinsten Strich
in der Luft.
Die Zeit verwischt mein Gesicht,
sie hat schon begonnen.
Hinter meinen Schritten im Staub
wäscht der Regen die Straße blank
wie eine Hausfrau.
Ich war hier.
Ich gehe vorüber
ohne Spur.
Die Ulmen am Weg
winken mir zu wie ich komme,
grün blau goldener Gruß,
und vergessen mich,
eh ich vorbei bin.
Ich gehe vorüber -
aber ich lasse vielleicht
den kleinen Ton meiner Stimme,
mein Lachen und meine Tränen
und auch den Gruß der Bäume im Abend
auf einem Stückchen Papier.
Und im Vorbeigehn,
ganz absichtslos,
zünde ich die ein oder andere
Laterne an
in den Herzen am Wegrand.

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Manchmal überkommt uns das Gefühl, dass wir und unser Handeln folgenlos, unwichtig und irrelevant sind. Schon im Sisyphus-Mythos kommt diese Idee zum Tragen. Hilde Domin, die Dichterin des Dennoch, widmet sich im heutigen Text genau dieser Erfahrung und setzt ihr eine kleine trotzige Hoffnung entgegen.

Wie wenig nütze ich bin

Wie wenig nütze ich bin,
ich hebe den Finger und hinterlasse
nicht den kleinsten Strich
in der Luft.
Die Zeit verwischt mein Gesicht,
sie hat schon begonnen.
Hinter meinen Schritten im Staub
wäscht der Regen die Straße blank
wie eine Hausfrau.
Ich war hier.
Ich gehe vorüber
ohne Spur.
Die Ulmen am Weg
winken mir zu wie ich komme,
grün blau goldener Gruß,
und vergessen mich,
eh ich vorbei bin.
Ich gehe vorüber -
aber ich lasse vielleicht
den kleinen Ton meiner Stimme,
mein Lachen und meine Tränen
und auch den Gruß der Bäume im Abend
auf einem Stückchen Papier.
Und im Vorbeigehn,
ganz absichtslos,
zünde ich die ein oder andere
Laterne an
in den Herzen am Wegrand.

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undefined - Folge 54 - Römische Brunnen (C.F. Meyer, Rainer Maria Rilke)

Folge 54 - Römische Brunnen (C.F. Meyer, Rainer Maria Rilke)

Was macht ein formvollendetes Gedicht aus? Und warum inspirieren gerade römische Brunnen zwei so hochkarätige Autoren wie C.F. Meyer und Rilke? Diesen Fragen soll heute nachgegangen werden.

Conrad Ferdinand Meyer

Der römische Brunnen
(7. Version, 1882)

Aufsteigt der Strahl und fallend gießt

Er voll der Marmorschale Rund,

Die, sich verschleiernd, überfließt

In einer zweiten Schale Grund;

Die zweite gibt, sie wird zu reich,

Der dritten wallend ihre Flut,

Und jede nimmt und gibt zugleich

Und strömt und ruht.

Rom: Springquell

(1. Version, 1860)

Es steigt der Quelle reicher Strahl

Und sinkt in eine schlanke Schal'.

Das dunkle Wasser überfließt

Und sich in eine Muschel gießt.

Es überströmt die Muschel dann

Und füllt ein Marmorbecken an.

Ein jedes nimmt und gibt zugleich

Und allesammen bleiben reich,

Und ob's auf allen Stufen quillt,

So bleibt die Ruhe doch im Bild

Der Brunnen

(2. Version, 1862)

In reichem Strahle steigt der Quell

Und sinkt in eine Muschel hell,

In eine breite Schale gießt

Die Muschel, was zu viel ihr ist,

Es überströmt die Schale dann

Und füllt ein Marmorbecken an,

Und alle Stufen bleiben reich,

Denn jede gibt und nimmt zugleich,

Und wenn es allenthalben quillt,

So ist es doch ein ruhig Bild.

Der Brunnen

(4. Version, 1865)

In einem römischen Garten

Verborgen ist ein Bronne,

Behütet von dem harten

Geleucht der Mittagssonne,

Er steigt in schlankem Strahle

In dunkle Laubesnacht

Und sinkt in eine Schale

Und übergießt sie sacht.

Die Wasser steigen nieder

In zweiter Schale Mitte

Und voll ist diese wieder,

Sie fluten in die dritte:

Ein Nehmen und ein Geben,

Und alle bleiben reich,

Und alle Fluten leben

Und ruhen doch zugleich

Rainer Maria Rilke

Römische Fontäne

Borghese

Zwei Becken, eins das andre übersteigend
aus einem alten runden Marmorrand,
und aus dem oberen Wasser leis sich neigend
zum Wasser, welches unten wartend stand,

dem leise redenden entgegenschweigend
und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand,
ihm Himmel hinter Grün und Dunkel zeigend
wie einen unbekannten Gegenstand;

sich selber ruhig in der schönen Schale
verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis,
nur manchmal träumerisch und tropfenweis

sich niederlassend an den Moosbehängen
zum letzten Spiegel, der sein Becken leis
von unten lächeln macht mit Übergängen.

Nächste Episode

undefined - Folge 56 - Der Taucher (Friedrich Schiller)

Folge 56 - Der Taucher (Friedrich Schiller)

Eine der bekanntesten Balladen Schillers ist Thema dieser Folge. Da der Text für die Shownotes zu lang ist, kann er hier nachgelesen werden:

https://de.wikisource.org/wiki/Der_Taucher

Der Tauchenichts

» Wer wagt es, Knappersmann oder Ritt,
zu schlunden in diesen Tauch?
Einen güldenen Becher habe ich mit,
den werf ich jetzt in des Meeres Bauch!
Wer ihn mir bringt, ihr Mannen und Knaben,
der soll meine Tochter zum Weibe haben!«
Der Becher flog.
Der Strudel zog
ihn hinab ins greuliche Tief.
Die Männer schauten,
weil sie sich grauten,
weg. - Und abermals der König rief:
» Wer wagt es, Knippersmann oder Ratt,
zu schlauchen in diesen Tund?
Wer's wagt - das erklär ich an Eides Statt ­
darf küssen meins Töchterleins Mund!
Darf heiraten sie. Darf mein Land verwalten!
Und auch den Becher darf er behalten!«
Da schlichen die Mannen
und Knappen von dannen.
Bald waren sie alle verschwunden - - ­Sie wußten verläßlich:
die Tochter ist gräßlich! ­
Der Becher liegt heute noch unten. . .

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