
Folge 30 - Der Erlkönig und andere Gruselwaldgedichte (Goethe, Hebbel, Fontane)
10/22/21 • 35 min
Der Wald ist ein wichtiges Motiv in der Literatur: Mal mystischer Ort, mal nüchtern betrachtete Ansammlung von Bäumen, mal Gegenwelt zur Stadt und dann auch Ort der Ängste des Menschen. In dieser Folge werden drei Waldgedichte besprochen, die vor allem die dunkle Seite des Waldes hervorheben und unsere Angst als Menschen in ihm.
Der Text zum Erlkönig:
https://de.wikisource.org/wiki/Erlk%C3%B6nig
Essay: Schuberts Erlkönig - Spur einer Vergewaltigung (Georg Friedrich Haas)
https://van-magazin.de/mag/georg-friedrich-haas-schuberts-erlkoenig/
Böser Ort (Christian Friedrich Hebbel) zwischen 1838 und 1843
Ich habe mich ganz verloren,
Wie ist hier Alles stumm!
Es drängen die schwarzen Bäume
Sich tückisch um mich herum.
Sie wollen mich nicht mehr lassen,
Mich aber treibt es fort,
Man spricht von bösen Orten,
Dieß ist ein böser Ort!
Hier ist schon Böses geschehen,
Und hier muß mehr gescheh'n,
Wird's nicht an ihm begangen,
So muß es der Mensch begeh'n.
Die Blumen, so hoch sie wachsen,
Sind blaß hier, wie der Tod,
Nur Eine in der Mitte
Steht da in dunklem Roth.
Die hat es nicht von der Sonne,
Nie traf sie deren Glut,
Sie hat es von der Erde,
Und die trank Menschenblut!
Du sollst dich nicht länger brüsten
Auf meines Bruders Grab
In deinem gestohl'nen Purpur,
Ich räch' ihn und breche dich ab!
Dort liegt sie zu meinen Füßen!
Da schwingt ein Vogel sich,
Setzt sich mir gegenüber
Und pfeift und verspottet mich.
»Jetzt läßt der Ort dich weiter,
Da ihm sein Recht geschah,
Du hast die Blume getödtet,
Es war nichts Anders da.«
Im Walde (Theodor Fontane) 1840
Der Wald wird immer dichter und dunkler wird die Nacht;
„Was bäumst du dich, mein Rappe, was hat dich scheu gemacht?
Du siehst wohl rings am Wege die Trauerweiden stehn
Und ahnst, dass in dem Walde gar Arges schon geschehn!“
Wie schaurig Geisterklänge durch alle Wipfel ziehn,
Gespenstisch Riesenschatten an mir vorüberfliehn,
Die alten Föhren starren mich düstren Blickes an
Und wehren mit den Armen mir späten Reitersmann.
Doch mit geschärften Sinnen trabt Ross und Reiter fort,
Und düstrer wird’s und stiller rings an dem Schreckensort;
Da plötzlich hellt das Dunkel des Mondes blasser Schein,
Da stört die Grabesstille des Birkhuhns heisres Schrein.
Mein Herz klopft immer stärker an meine bange Brust,
Schon reit ich schnell und schneller mir selber unbewusst,
Da stutzt mein Ross aufs neue vor einem Kreuz von Stein,
Dort soll vor vielen Jahren ein Mensch erschlagen sein.
Mein Auge schließt sich krampfhaft, mein Blut erstarrt zu Eis.
Das Blut des Rappen rieselt aus Sporenwunden heiß.
So jag ich, bis der Morgen die düstre Nacht gebleicht,
Bis ich den Rettungshafen, des Waldes Saum, erreicht.
Der Wald ist ein wichtiges Motiv in der Literatur: Mal mystischer Ort, mal nüchtern betrachtete Ansammlung von Bäumen, mal Gegenwelt zur Stadt und dann auch Ort der Ängste des Menschen. In dieser Folge werden drei Waldgedichte besprochen, die vor allem die dunkle Seite des Waldes hervorheben und unsere Angst als Menschen in ihm.
Der Text zum Erlkönig:
https://de.wikisource.org/wiki/Erlk%C3%B6nig
Essay: Schuberts Erlkönig - Spur einer Vergewaltigung (Georg Friedrich Haas)
https://van-magazin.de/mag/georg-friedrich-haas-schuberts-erlkoenig/
Böser Ort (Christian Friedrich Hebbel) zwischen 1838 und 1843
Ich habe mich ganz verloren,
Wie ist hier Alles stumm!
Es drängen die schwarzen Bäume
Sich tückisch um mich herum.
Sie wollen mich nicht mehr lassen,
Mich aber treibt es fort,
Man spricht von bösen Orten,
Dieß ist ein böser Ort!
Hier ist schon Böses geschehen,
Und hier muß mehr gescheh'n,
Wird's nicht an ihm begangen,
So muß es der Mensch begeh'n.
Die Blumen, so hoch sie wachsen,
Sind blaß hier, wie der Tod,
Nur Eine in der Mitte
Steht da in dunklem Roth.
Die hat es nicht von der Sonne,
Nie traf sie deren Glut,
Sie hat es von der Erde,
Und die trank Menschenblut!
Du sollst dich nicht länger brüsten
Auf meines Bruders Grab
In deinem gestohl'nen Purpur,
Ich räch' ihn und breche dich ab!
Dort liegt sie zu meinen Füßen!
Da schwingt ein Vogel sich,
Setzt sich mir gegenüber
Und pfeift und verspottet mich.
»Jetzt läßt der Ort dich weiter,
Da ihm sein Recht geschah,
Du hast die Blume getödtet,
Es war nichts Anders da.«
Im Walde (Theodor Fontane) 1840
Der Wald wird immer dichter und dunkler wird die Nacht;
„Was bäumst du dich, mein Rappe, was hat dich scheu gemacht?
Du siehst wohl rings am Wege die Trauerweiden stehn
Und ahnst, dass in dem Walde gar Arges schon geschehn!“
Wie schaurig Geisterklänge durch alle Wipfel ziehn,
Gespenstisch Riesenschatten an mir vorüberfliehn,
Die alten Föhren starren mich düstren Blickes an
Und wehren mit den Armen mir späten Reitersmann.
Doch mit geschärften Sinnen trabt Ross und Reiter fort,
Und düstrer wird’s und stiller rings an dem Schreckensort;
Da plötzlich hellt das Dunkel des Mondes blasser Schein,
Da stört die Grabesstille des Birkhuhns heisres Schrein.
Mein Herz klopft immer stärker an meine bange Brust,
Schon reit ich schnell und schneller mir selber unbewusst,
Da stutzt mein Ross aufs neue vor einem Kreuz von Stein,
Dort soll vor vielen Jahren ein Mensch erschlagen sein.
Mein Auge schließt sich krampfhaft, mein Blut erstarrt zu Eis.
Das Blut des Rappen rieselt aus Sporenwunden heiß.
So jag ich, bis der Morgen die düstre Nacht gebleicht,
Bis ich den Rettungshafen, des Waldes Saum, erreicht.
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Folge 29 - das ende der eulen (Hans Magnus Enzensberger)
Der heutige Text thematisiert den Kalten Krieg aus einer ungewohnten Perspektive: Mit Blick auf die Natur. Auch wenn er in einer politisch vergangenen Periode geschrieben wurde, ist dieser Text nichtsdestotrotz aktuell und übertragbar auf unsere Gegenwart. Hans Magnus Enzensberger[1]: das ende der eulen (1960)
ich spreche von euerm nicht,
ich spreche vom ende der eulen,
ich spreche von butt und wal,
in ihrem dunkeln haus.
dem siebenfältigen meer,
von den gletschern,
sie werden kalben[2]zu früh,
rab und taube, gefiederten zeugen
von allem was lebt in den lüften
und wäldern, und den flechten im kies
vom weglosen selbst, und vom grauen moor
und leeren gebirgen.
auf radarschirmen leuchtend
zum letzten mal, ausgewertet
auf meldetischen[3], von antennen
tödlich befingert floridas sümpfe
und das sibirische eis, tier
und schilf und schiefer erwürgt
von warnketten, umzingelt
vom letzten manöver, arglos
unter schwebenden feuerglocken[4],
im ticken des ernstfalls.
wir sind schon vergessen,
sorgt euch nicht um die waisen,
aus dem sinn schlagt euch
die mündelsichern[5]gefühle.
den ruhm, die rostfreien psalmen[6].
ich spreche nicht mehr von euch,
planern der spurlosen tat,
und von mir nicht, und keinem.
ich spreche von dem was nicht spricht,
von den sprachlosen zeugen,
von ottern und robben,
von den alten eulen der erde.
[1]Enzensberger wurde 1929 geboren. Er ist Publizist, Dichter, Übersetzer und politisch engagierter Essayist.
[2]‚Kalben‘ bezeichnet das Abbrechen größerer Eismassen von im Meer endenden Gletschern
[3]Meldetische = Verweist auf militärische Operationszentralen
[4]Feuerglocke = Atompilz
[5]Mündelsicher = Für die Zukunft abgesichert
[6]Psalm = Religiöse Textform
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Folge 31 - Beglaubigung der Jungfer Poeterey (Susanna Elisabeth Zeidler)
In dieser Folge geht es um ein emanzipatorisches Gedicht aus der Barock-Zeit. Über die Autorin gibt es fast keine Informationen, aber eins ist klar: Sie war ihrer Zeit weit voraus!
Kurzbiografie Susanna Elisabeth Zeidler:
http://www.wortblume.de/dichterinnen/zeidle_b.htm
Vorwort zu 'Jungferlicher Zeitvertreiber'
http://www.wortblume.de/dichterinnen/zeidl00v.htm
Beglaubigung der Jungfer Poeterey
Rhapsodius gläubt nicht das Jungfern Verse machen:
Wie solte man nu nicht der falschen Meynung lachen?
Wie / wenn man sagte / das hochzeitliche Gedicht /
Das Rhapsodus gemacht / ist seine Arbeit nicht.
Ist dieses müglich / so kan jenes auch geschehen.
Hat denn Herr Rhapsodus dergleichen nie gesehen?
Ihr Musen Söhne denckt / ihr seyd es gar allein /
Bey denen Phoebus zeucht mit seinen Künsten ein.
O nein / ihr irret euch: Die Pallas pflegt dergleichen
Künst / Weißheit und Verstand uns Nimphen darzureichen.
Sind wir gleich nicht an Kunst und Gaben gar zu reich /
Noch euch / ihr Phoebus Volck in allen Stücken gleich
(Denn dieses ist gewiß / das läßt man wol passiren /
Das euch die freye Kunst vortrefflich kan bezieren /
Dazu euch euer Fürst Apollo Anlaß giebt /
Wenn ihr von Jugend auf Parnassus Hügel liebt.)
So werdet ihr doch diß nicht gäntzlich leugnen können /
Das GOtt und die Natur uns ebenmäßig gönnen
Was euch gegeben ist / und das uns offtmahls nicht
Das Tichten / sondern nur die Zeit dazu gebricht.
Es fehlt uns nicht an Witz / und andern guten Gaben /
Nur das man nicht dazu Gelegenheit kan haben.
Wenn man uns so wie euch / die Künste gösse ein /
So wollten wir euch auch hierinnen gleicher seyn.
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