
Politische Korrektheit: Die moderne Form von Gottesfurcht und Puritanismus
01/28/24 • 12 min
Wie kommt es eigentlich, dass ausgerechnet in den westlich-liberalen Ländern der Puritanismus fröhliche Urstände feiert? Und das lustvoll genossene Leben als geradezu moralisch verwerflich gilt? Etwa wenn Menschen rauchen, Fleisch essen und genüsslich Alkohol trinken? (Ein Wissenschaftler verkündete neulich in einem Radiobeitrag mahnend: „Jedes Glas Alkohol verkürzt das Leben!“). Oder wenn Worte nicht mehr ausgesprochen werden dürfen, weil sie „böse“ sind? So, wie man früher unter Katholiken nicht das Wort „Teufel“ aussprechen durfte und vom „Der Gott-sei-bei-uns“ sprechen musste? Unser Autor Udo Brandes hat dazu in dem Buch eines Politologen und Psychotherapeuten interessante Gedanken gefunden.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Vor Kurzem habe ich eine wunderbare Karikatur gesehen. Ein junger Mann und eine junge Frau treffen sich zu einem ersten Date in einer Bar. Gleich beim Kennenlernen sagt die junge Frau zu dem jungen Mann: „Ich bin Veganerin, trinke keinen Alkohol und dusche jeden Morgen kalt.“ Der junge Mann antwortet: „Mensch, toll! Ich finde es unheimlich sympathisch, wenn ein Mensch so offen über seine psychischen Probleme reden kann.“
Ich vermute, diesen kleinen Witz werden nicht alle Leser lustig finden können. Denn als ich in einer Kolumne auf den NachDenkSeiten („Wer nur noch gesund lebt, lebt ungesund!“) das übermäßige Streben nach Gesundheit kritisch betrachtete, erntete ich auf Facebook neben vielen positiven auch einige sehr erboste Kommentare. Ein Leser kommentierte meinen Text gar mit einem extrem ausführlichen Text von ca. vier DIN A4-Seiten. Das wirkte auf mich so wie die empörte Reaktion eines altmodischen Pfarrers, der jemanden wegen einer gotteslästerlichen Bemerkung abkanzelt.
Ganz offensichtlich hatte ich bei diesen empörten Kommentatoren tief sitzende Überzeugungen infrage stellt und dadurch bei ihnen Verunsicherung und Wut ausgelöst. Aber warum löste mein Text bei manchen so eine Wut aus? Ich sehe dafür zwei Gründe: Der eine lässt sich sehr gut mit einem Zitat von Günter Grass veranschaulichen. Der sagte einmal:
„Wer selbst nicht mehr genießt, wird selber ungenießbar.“
Genuss ist ein Lebenselixier
Mit anderen Worten: Wer ständig asketisch lebt und seine Lust auf ein gutes Essen oder darauf, mal eine Nacht durchzufeiern und auch mal „schmutzige“ oder „unreine“ Dinge zu genießen, etwa Zigaretten, alkoholische Getränke, „böse“ Kohlenhydrate oder derbe Witze, der muss ja schließlich schlechte Laune bekommen und schaut natürlich feindselig auf andere, die weiterhin lustvoll ihr Leben genießen – und dabei wider alle Theorie noch nicht mal krank werden. Weil Lust oder Genuss eben auch ein Lebenselixier ist.
Aber es gibt noch einen weiteren Grund: Die seit vielen Jahrhunderten in der Gesellschaft wirksame christliche Ethik ist nach wie vor in den Köpfen westlicher Menschen präsent. Und zwar auch bei liberalen Menschen, die nicht mehr an einen Gott und ein Jenseits, das in Himmel und Hölle aufgeteilt ist, glauben. Aber diese christliche Denkstruktur und Moral ist nach wie vor in vielen westlichen Menschen präsent. Gott ist ins Ich umgezogen, wie es der Politologe und Psychotherapeut Malte Nelles in seinem Buch „Gottes Umzug ins Ich“ formuliert. Oder, wie es der österreichische Philosoph Robert Pfaller in einem seiner Bücher formulierte: Man kann auch Christ sein, ohne es zu wissen. Anders ausgedrückt: Viele Menschen in unserer Gesellschaft denken und fühlen noch immer wie Christen, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind.
Das beginnt mit einem absoluten Denken, das nur zwischen „Gut“ und „Böse“ unterscheidet und nur „Schwarz“ oder „Weiß“ kennt, aber keine Grautöne. Nelles beschreibt dies in dem erwähnten Buch wie folgt:
„Im frühen Christentum wurde eine populäre zeitgenössische Idee aufgegriffen, die das menschliche Weltverhältnis bis heute prägt: die Teilung der Wirklichkeit in Gut und Böse. Die vorchristlichen Götter des griechischen Pantheons waren alles, aber nicht einseitig. Sie herrschten, neideten, kopulierten, brachten einander um und entsprachen in ihren Handlungen der gesamten menschlichen Gefühlswelt. Der alttestamentarische Gott Jahwe war rachsüchtig und zornig. Und der Gott der Christen im Neuen Testament? Er war der Vater. An ihn konnte man sich wenden. Er war der ‚liebe Gott‘, der Gott der Liebe.“
Moralisieren und Predigen dient der eigenen Selbsterhöhung
Genau dieses Denken in absoluten Kategorien (es gibt nur „Gut“ oder „Böse“, aber nichts dazwischen) beherrscht heute westlich-liberale Kulturen. Besonders deutlich kommt dies in der „Politischen Korrektheit“ und der „Cancel Culture“ zum Ausdruck. Dabei sollte man sich darüber im Klaren sein: Wer eine Religion predigt und Menschen moralisch belehrt, ob nun im Namen einer traditionellen Religion im wörtlich...
Wie kommt es eigentlich, dass ausgerechnet in den westlich-liberalen Ländern der Puritanismus fröhliche Urstände feiert? Und das lustvoll genossene Leben als geradezu moralisch verwerflich gilt? Etwa wenn Menschen rauchen, Fleisch essen und genüsslich Alkohol trinken? (Ein Wissenschaftler verkündete neulich in einem Radiobeitrag mahnend: „Jedes Glas Alkohol verkürzt das Leben!“). Oder wenn Worte nicht mehr ausgesprochen werden dürfen, weil sie „böse“ sind? So, wie man früher unter Katholiken nicht das Wort „Teufel“ aussprechen durfte und vom „Der Gott-sei-bei-uns“ sprechen musste? Unser Autor Udo Brandes hat dazu in dem Buch eines Politologen und Psychotherapeuten interessante Gedanken gefunden.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Vor Kurzem habe ich eine wunderbare Karikatur gesehen. Ein junger Mann und eine junge Frau treffen sich zu einem ersten Date in einer Bar. Gleich beim Kennenlernen sagt die junge Frau zu dem jungen Mann: „Ich bin Veganerin, trinke keinen Alkohol und dusche jeden Morgen kalt.“ Der junge Mann antwortet: „Mensch, toll! Ich finde es unheimlich sympathisch, wenn ein Mensch so offen über seine psychischen Probleme reden kann.“
Ich vermute, diesen kleinen Witz werden nicht alle Leser lustig finden können. Denn als ich in einer Kolumne auf den NachDenkSeiten („Wer nur noch gesund lebt, lebt ungesund!“) das übermäßige Streben nach Gesundheit kritisch betrachtete, erntete ich auf Facebook neben vielen positiven auch einige sehr erboste Kommentare. Ein Leser kommentierte meinen Text gar mit einem extrem ausführlichen Text von ca. vier DIN A4-Seiten. Das wirkte auf mich so wie die empörte Reaktion eines altmodischen Pfarrers, der jemanden wegen einer gotteslästerlichen Bemerkung abkanzelt.
Ganz offensichtlich hatte ich bei diesen empörten Kommentatoren tief sitzende Überzeugungen infrage stellt und dadurch bei ihnen Verunsicherung und Wut ausgelöst. Aber warum löste mein Text bei manchen so eine Wut aus? Ich sehe dafür zwei Gründe: Der eine lässt sich sehr gut mit einem Zitat von Günter Grass veranschaulichen. Der sagte einmal:
„Wer selbst nicht mehr genießt, wird selber ungenießbar.“
Genuss ist ein Lebenselixier
Mit anderen Worten: Wer ständig asketisch lebt und seine Lust auf ein gutes Essen oder darauf, mal eine Nacht durchzufeiern und auch mal „schmutzige“ oder „unreine“ Dinge zu genießen, etwa Zigaretten, alkoholische Getränke, „böse“ Kohlenhydrate oder derbe Witze, der muss ja schließlich schlechte Laune bekommen und schaut natürlich feindselig auf andere, die weiterhin lustvoll ihr Leben genießen – und dabei wider alle Theorie noch nicht mal krank werden. Weil Lust oder Genuss eben auch ein Lebenselixier ist.
Aber es gibt noch einen weiteren Grund: Die seit vielen Jahrhunderten in der Gesellschaft wirksame christliche Ethik ist nach wie vor in den Köpfen westlicher Menschen präsent. Und zwar auch bei liberalen Menschen, die nicht mehr an einen Gott und ein Jenseits, das in Himmel und Hölle aufgeteilt ist, glauben. Aber diese christliche Denkstruktur und Moral ist nach wie vor in vielen westlichen Menschen präsent. Gott ist ins Ich umgezogen, wie es der Politologe und Psychotherapeut Malte Nelles in seinem Buch „Gottes Umzug ins Ich“ formuliert. Oder, wie es der österreichische Philosoph Robert Pfaller in einem seiner Bücher formulierte: Man kann auch Christ sein, ohne es zu wissen. Anders ausgedrückt: Viele Menschen in unserer Gesellschaft denken und fühlen noch immer wie Christen, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind.
Das beginnt mit einem absoluten Denken, das nur zwischen „Gut“ und „Böse“ unterscheidet und nur „Schwarz“ oder „Weiß“ kennt, aber keine Grautöne. Nelles beschreibt dies in dem erwähnten Buch wie folgt:
„Im frühen Christentum wurde eine populäre zeitgenössische Idee aufgegriffen, die das menschliche Weltverhältnis bis heute prägt: die Teilung der Wirklichkeit in Gut und Böse. Die vorchristlichen Götter des griechischen Pantheons waren alles, aber nicht einseitig. Sie herrschten, neideten, kopulierten, brachten einander um und entsprachen in ihren Handlungen der gesamten menschlichen Gefühlswelt. Der alttestamentarische Gott Jahwe war rachsüchtig und zornig. Und der Gott der Christen im Neuen Testament? Er war der Vater. An ihn konnte man sich wenden. Er war der ‚liebe Gott‘, der Gott der Liebe.“
Moralisieren und Predigen dient der eigenen Selbsterhöhung
Genau dieses Denken in absoluten Kategorien (es gibt nur „Gut“ oder „Böse“, aber nichts dazwischen) beherrscht heute westlich-liberale Kulturen. Besonders deutlich kommt dies in der „Politischen Korrektheit“ und der „Cancel Culture“ zum Ausdruck. Dabei sollte man sich darüber im Klaren sein: Wer eine Religion predigt und Menschen moralisch belehrt, ob nun im Namen einer traditionellen Religion im wörtlich...
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Die Massenmedien als Konsensfabrik für die Gesellschaft
Für das Funktionieren der Demokratie haben investigative und kritische Medien eine elementare Bedeutung. Nicht ohne Grund werden sie als die „Vierte Gewalt“ im Staat bezeichnet. Sollen sie doch die eigentlichen drei Gewalten des Rechtsstaates – die Gesetzgebung (Legislative), die ausführende Gewalt (Exekutive) und die Rechtsprechung (Judikative) – kritisch begleiten, hinterfragen und Missstände aufdecken, um die Macht dieser drei Gewalten zu begrenzen und demokratie-untergrabende Verquickungen zwischen diesen zu enthüllen. Dieser Funktion kommen die Massenmedien jedoch zunehmend immer weniger nach. Den Ursachen für diese Deformierung sind Edward S. Herman und Noam Chomsky in ihrem 1988 erschienenen Buch „Manufacturing Consent“ nachgegangen. Nun liegt zum ersten Mal dessen deutsche Übersetzung „Die Konsensfabrik – Die politische Ökonomie der Massenmedien“ vor. Eine Rezension von Lutz Hausstein.
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Es ist schon erstaunlich. Auf nur wenige Bücher wurde in den vergangenen Jahrzehnten auch hierzulande so häufig Bezug genommen wie auf „Manufacturing Consent“, obwohl es bislang noch gar nicht in deutscher Sprache erschienen war. Dabei widmen sich die beiden Autoren, der 2017 verstorbene US-amerikanische Ökonom und Medienanalyst Edward S. Herman und der US-amerikanische Linguist und Kognitionswissenschaftler Noam Chomsky, der kürzlich seinen 95. Geburtstag feierte, doch einem Kernproblem der Demokratie: der systematischen Aushebelung eines funktionierenden Mediensystems. Und zuzugeben, dass es Probleme bei der uneingeschränkten Umsetzung ihrer Kernaufgabe gibt, kommen selbst die Massenmedien nicht mehr umhin. Zwar verweigern sie sich nach wie vor der grundlegenden Feststellung ihres Versagens, dennoch sehen sie sich neben kritischen Eigenberichten zu strukturellen Verwerfungen zunehmend auch dazu gezwungen, dem öffentlichen Protest gegen die Art ihrer Berichterstattung hin und wieder Raum einzuräumen. Auch wenn dies häufig mit einem Framing wie beispielsweise „Verschwörungstheorie“ verbunden wird, so können sie dennoch den zunehmenden Widerstand gegen ihre Verweigerungshaltung nicht mehr einfach so unter den Tisch kehren.
Das sehr ausführliche Vorwort von Krüger, Pötzsch und Zollmann ist äußerst bemerkenswert, bildet es doch eine Art Metaebene, die das Buch von Herman und Chomsky und seine Inhalte um weitere, teils aktuelle Facetten erweitert sowie punktuell Konkretisierungen und zusätzliche Kontexte hinzufügt. Man ist als Leser fast versucht, sich dieses Vorwort vielmehr als Nachwort zu wünschen, da es nicht nur auf den Inhalten des Buches aufbaut, sondern diese sogar noch maßgeblich fachlich erweitert.
In diesem Vorwort wird u.a. auch der Begriff „Propaganda“, der für das Buch wie auch das in ihm aufgestellte Propagandamodell fundamental ist, hergeleitet und beschrieben (S. 20 ff.). Es geht hierbei um Propaganda im Sinne von PR/Öffentlichkeitsarbeit, wie sie erstmals 1922 in Walter Lippmanns „Public Opinion“, im Deutschen „Die öffentliche Meinung“, dargelegt wurde. Dort redet Lippmann einer Elitendemokratie das Wort, da „die Gemeininteressen [...] nur von einer spezialisierten Schicht wahrgenommen werden“ könnten. Dieses Werk hatte wiederum maßgeblichen Einfluss auf die Arbeiten eines der Begründer der Propaganda, Edward Bernays, welche später in Public Relations umbenannt wurde, um sie vom inzwischen negativ konnotierten Begriff der Propaganda abzugrenzen.
Das Propagandamodell im Einzelnen
Ein Kernsatz steht schon im Vorwort der Ausgabe von 1988:
„Zensur ist hier weitgehend Selbstzensur [...]“
Die soziale Herkunft wirkt für Medienschaffende schon mit dem Eintritt ins Journalismusstudium als ein Filter. Und je höher es die Karriereleiter zu erklimmen gilt, desto stärker wirkt dieser Filter. So stark, dass in den Führungspositionen fast durchgängig genau die Mitglieder der oberen Mittelschicht sowie der Oberschicht übrig bleiben. Und diese haben natürlich die Werte der Schicht, der sie selbst entstammen, im wahrsten Sinne des Wortes „mit der Muttermilch aufgesaugt“ und vertreten diese Interessen nun ganz selbstverständlich auch in ihrer beruflichen Tätigkeit – auch ganz ohne Anweisung „von oben“. Denn auch hier gilt wie andernorts eine zentrale Aussage der Marx’schen Philosophie: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Die Sozialisation der Journalisten bestimmt, wie sie die Welt wahrnehmen und interpretieren.
Gleichzeitig existierte schon auf dem Weg bis zur Universität ein erheblicher Konformitätsdruck, der andernfalls zur Selektion führt. Noam Chomsky beschrieb das in einem Interview 2010 folgendermaßen:
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Endspiel – Der Staat Palästina wird kommen
Redaktionelle Vorbemerkung: Der folgende Text von Peter Vonnahme ist eine ausführliche Darstellung der Probleme im Nahen Osten kombiniert mit konkreten Lösungsvorschlägen. Deshalb empfehlen wir diesen Text trotz seiner Länge Ihrer Aufmerksamkeit. Peter Vonnahme war Richter am Verwaltungsgericht München, von 1982 bis zu seiner In-Ruhestand-Versetzung 2007 Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof. A.M.
Bilanz des Grauens.
Gaza liegt in Schutt und Asche. Bisher gibt es mehr als 25.000 Tote, etwa 70 Prozent davon sind Frauen und Kinder. In den ersten drei Monaten des Krieges in Gaza sind mehr als doppelt so viel Menschen ums Leben gekommen wie in zwei Jahren Ukrainekrieg (ca. 10.000). Nahezu 70 Prozent der Gebäude sind zerstört oder unbewohnbar. Die Bevölkerung wurde vom israelischen Militär in den Süden des Landstrichs vertrieben, dort ging das Bombardement weiter.
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Die Menschen irren umher – heimatlos, entkräftet und verzweifelt – in ständiger Angst vor einem weiteren Militärschlag Israels. Flucht aus dem „Freiluftgefängnis Gaza“ ist fast unmöglich, weil Israel die Grenzen überwacht.
Im Innern herrscht Mangel an allem, an Trinkwasser, Nahrung, ärztlicher Versorgung, Strom, Treibstoff. Die UNO hat gewarnt, mehr als eine Million Menschen seien vom Hungertod bedroht.
Gaza ist die Hölle auf Erden, ein Ende ist nicht absehbar. Alle Appelle, die Zivilbevölkerung zu schonen, verhallen im Nichts. Netanjahu betont stereotyp, der Krieg müsse zu Ende geführt werden, bis die Hamas völlig vernichtet sei.
Israel führt schon längst keinen Verteidigungskrieg mehr gegen die Hamas, es ist inzwischen ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Israel begründet seine Bombardements damit, dass die Hamas ihre Waffenlager unter Schulen und Kliniken versteckt habe. Aber auch das rechtfertigt nicht die Grausamkeit der Militärschläge gegen zivile Einrichtungen. Überspitzt ausgedrückt: Hätte die Hamas die Bomber, Raketen und Panzer der Militärmacht Israel, wäre sie nicht auf solche Verstecke angewiesen.
Der Überfall
Der Versuch, die Geschehnisse einzuordnen, ist schwierig. Einigkeit besteht nur darin, dass die brutalen Terrorattacken der Hamas vom 7. Oktober schwere Verbrechen sind.
Allerdings ist dieses Datum nicht der Beginn des Zerwürfnisses und erst recht keine Zeitenwende. Es ist auch nur die halbe Wahrheit, wenn behauptet wird, dass der Hamas-Angriff überraschend und völlig unprovoziert erfolgt sei. In Wirklichkeit herrschte seit der Gründung Israels 1948 nie Frieden. Es gab mehrere verlustreiche Kriege. Außerdem gab es in all den Jahren der Besatzung immer wieder brutale Gewalttaten – auf beiden Seiten. Gerade in letzter Zeit häuften sich wieder Siedlerattacken auf die Zivilbevölkerung in der Westbank. Erst am Vorabend des Hamas-Angriffs überfielen israelische Siedler den Markt Huwara und töteten einen jungen Mann.
Aber nochmals: Das alles ist keine Rechtfertigung für den 7. Oktober.
Selbstverteidigung oder Rache?
Israel hat das Recht zur Selbstverteidigung gemäß Art. 51 Abs. 2 UN-Charta. Ursprünglich galt diese Norm nur bei einem bewaffneten Angriff durch einen Staat. Doch seit dem Terroranschlag der Al Kaida auf die USA („9-11“) werden auch Gewaltakte nichtstaatlicher Akteure – wie der Hamas – vom Anwendungsbereich der Vorschrift erfasst (Resolution 1368 des UN-Sicherheitsrats). Nach allgemeiner Auffassung darf Israel im Rahmen der Selbstverteidigung auch versuchen, die von der Hamas verschleppten Geiseln zu befreien.
Doch das Völkerrecht setzt klare Grenzen. Ein Massaker rechtfertigt nicht das nächste. Das bedeutet, ein Staat, der sich gegen Terroristen wehrt, darf nicht selbst zu Mitteln des Terrors greifen. Andernfalls wird er selbst zum Terrorstaat. Das Völkerrecht kennt nur ein Recht auf Verteidigung, aber kein Recht auf Rache. Wie brutal und niederträchtig die Angriffe der Hamas auf Zivilisten auch gewesen sein mögen, sie sind keine Legitimation für hemmungslose Bombardements der Zivilbevölkerung.
Es besteht kein Zweifel: In Gaza wird die zivile Bevölkerung kollektiv bestraft. Häuser und öffentliche Einrichtungen werden zerstört. Es werden überproportional viele Kinder und Frauen getötet, und Hunger wird als Waffe eingesetzt. Das dient nicht der Selbstverteidigung, das sind Kriegsverbrechen. Schon 2017 kam die UN in einem Untersuchungsbericht zu folgendem Ergebnis: „Viele [. .] Maßnahmen verstoßen gegen das Völkerrecht, weil sie die gesamte Bevölkerung von Gaza ohne Rücksicht auf die individuelle Verantwortung treffen und somit einer kollektiven Bestrafung gleichkommen.“
Bei einer Sitzung des Weltsicherheitsrates am 24. Oktober verurteilte UN-Generalsekretär António Guterres zunächst die Angriffe der islamistischen Hamas auf das Schärfste. Dann sagte er mit Blick auf die 56 Jahre dauernde „erdrückende Besatzung“ d...
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